Schmidt liest Proust
Mittwoch, 19. Juli 2006

Seite 1-21

Lange Zeit bin ich früh laufen gegangen. Heute scheint die Sonne, es werden 35 Grad. Ich wiege 75 Kg und war schon ziemlich lange nicht mehr beim Friseur. Ich würde gerne irgendwohin fahren, kann mich aber nicht entscheiden, wohin. Da, wo ich schon war, und es schön fand, würde mir nur ständig auffallen, wie alt ich inzwischen geworden bin, und wo ich noch nicht war, traue ich mich nicht hin. Außerdem kann ich nicht weg, weil am Donnerstag meine Latein-Klausur ist, auf die ich mich freue, weil ich bei der Gelegenheit mal unter Leute komme. Wir werden uns zwar nicht unterhalten, aber ich werde die jungen Leute atmen hören und mich fühlen, als seien wir eine große Familie. Jedenfalls ist der Sommer schon halb vorbei und man hat noch kein Erlebnis gehabt, mit dem man ihn später verbinden wird, höchstens mit meinen den ganzen Tag zugezogenen IKEA-Vorhängen, die ein Fehlkauf waren, weil die graue Farbe unschön ist und weil sie auf dem Draht nicht richtig gleiten. Man kann sie nicht optimistisch aufziehen, oder befriedigt von den am Tag erbrachten Leistungen zuziehen, man zerrt immer daran herum. Ideale Voraussetzungen, um endlich "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" anzufangen, vorher kann man ja gar nicht mitreden, danach allerdings auch nicht, weil man keinen mehr finden wird, der einen noch versteht. Man wird dann bei jedem Thema sagen: "Lies mal Proust", weil man es nicht besser sagen kann, als er. Man hat ja schon manche dicke Bücher geschafft, aber Prousts Roman hat in 7 Bänden mehr als 3500 Seiten. Wenn ich täglich 20 Seiten lese, bin ich in 180 Tagen durch, also Mitte Januar. Lohnt sich das? Vielleicht wird am Ende gar nicht verraten, wer der Mörder war? Der wahre Grund für mich, Proust zu lesen, ist, daß ich dann vielleicht endlich Becketts Proust-Essay verstehe, an dem ich immer gescheitert bin. Und selbst, wenn es nicht reicht, Proust zu lesen, um Becketts Proust-Essay zu verstehen, wird man zumindest wissen, was Proust geschrieben hat. Zu wissen, was Proust geschrieben hat, ist sicher das Minimalziel einer Proust-Lektüre. Wenn ich pro Seite vielleicht 2-3 Zeilen anstreiche, wozu habe ich dann den Rest gelesen? Kann man den Text, den man nicht markiert hat als Schlacke betrachten? Wenn ja, dann ist es wirklich ein Luxus, für so wenig Ausbeute so viel lesen zu müssen. Oder stimmen einen die normalen Stellen ein auf die bemerkenswerten Sätze? Man kann natürlich auch lesen, um sich von allem anderen abzulenken, aber das will ich ja gar nicht, schon gar nicht ein halbes Jahr lang. Ein Problem ist die Übersetzung, ich bin leider zu faul, es im Original zu versuchen, das würde dann mindestens drei Jahre dauern. Welche Übersetzung liest man also, die alte von Eva Rechel-Mertens oder die neue? Man könnte natürlich auch beide vergleichen, oder gleich eine eigene machen. Ich habe vor ca. 15 Jahren, als die neue Übersetzung erschien mal einen Zeitungsartikel ausgeschnitten, in dem stand, was für welche Übersetzung sprach. Aber jetzt, wo ich ihn brauche, finde ich ihn natürlich nicht mehr. Die pastellfarbenen Bände der Ostausgabe (Rütten&Loening, Berlin 1974) standen, seit ich denken kann, im Bücherschrank der Eltern. Ich litt lange unter einem grundlegenden Mißverständnis, es gab nämlich einen sowjetischen Kinderfilm, in dem jemand die Zeit stiehlt, mit dem Titel: "Die verlorene Zeit" Wie immer ein grusliges Werk mit unangenehm aufdringlichen Zauberwesen, die in sich in die sozialistische Wirklichkeit vorwagen und die Zeit stehlen. Jedenfalls dachte ich, das Buch im Bücherschrank meiner Eltern sei das Buch zum Film und wunderte mich, daß es so lang und gar nicht kindgerecht geschrieben war. Vielleicht muß man diese Bücher gar nicht lesen, es reicht schon, daß man sich von früher her an die Titel und den Einband erinnert. "Bildnis einer Dame" und "Der Idiot" haben sich mir eingeprägt. Man ahnt ja gar nicht, was Kinder so wahrnehmen. Ich kann mich nicht erinnern, daß je das Bedürfnis aufgekommen wäre, die Bücher meiner Eltern zu lesen, aber sie gehörten zur Wohnung wie die durchgesessenen Stühle.

Der Erzähler beschreibt, wie man sich fühlt, wenn man aufwacht, und nicht weiß, wo man ist, und das Gehirn zu rekonstruieren versucht, wo man sich befindet und dabei verschiedene Zimmer durchgeht, in denen man einmal gewohnt hat. Zu Prousts Zeiten sicher eine neue Beobachtung, aber etwas langatmig geschildert. "Der anästhesierende Einfluß der Gewohnheit." Ein Zimmer "in dem ich mich von der ersten Sekunde an durch den mir unbekannten Vetiverduft gleichsam seelisch vergiftet fühlte, überzeugt von der Feindseligkeit der violetten Vorhänge und der anmaßenden Gleichgültigkeit der Pendüle, die ganz laut vor sich hin schwatzte, als sei ich gar nicht da."

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