Schmidt liest Proust
Dienstag, 9. Januar 2007

Berlin - VII Die wiedergefundene Zeit - Seite 85-105

Vielleicht hätte sie lieber einen Mann wie Remo gewollt, der sich zu DDR-Zeiten von einer Pauschalreise in die Sowjetunion abgeseilt hat und mit einem grünen SV-Ausweis als "Paß" durchs halbe Land gefahren ist, die sowjetischen Beamten waren überfordert und ließen ihn überall durch. Im Pamir hat er mit Honig einen Bären angelockt, um ihn zu fotografieren, und wäre fast dabei umgekommen. Er ist sehr kräftig, in der Jugend war er Stürmer, er schlingt beim Essen, weil er viele Brüder hatte und bei ihnen die Regel galt, daß, wer seinen Teller leer hatte, bei den anderen mitessen durfte. Er hat inzwischen 9 Kinder von 6 Frauen und hat irgendwann das Schachspielen entdeckt, seit er 50 ist, trainiert er wie besessen, jeden Tag fünf Stunden. In New York hat er im Central Park um Geld gespielt, aber die alten russischen Männer dort hatten zum Teil Großmeisterniveau und lebten vom Schach. Sie besiegten ihre Gegner immer ganz knapp, um sie nicht zu entmutigen.

Unter Remo wohnte einmal ein Knasti, der, wenn er nachts betrunken nach Hause kam, elend laut DDR-Radio anmachte, vor allem die Nachrichten fand Remo unangenehm. Weil er wußte, daß Knastis auf Hierarchien geeicht sind, hat er gar nicht erst gefragt, sondern ihm gleich die Tür eingetreten und den im Bett Liegenden verdroschen. Daraufhin hatten sie Ruhe, und der Mann bestand darauf, immer wenn er sie traf, Remos damaliger Frau die Einkaufsbeutel zu tragen. (Remo hat mir das erzählt, als ich selbst Ärger mit einem lauten Nachbarn hatte, ich bin aber schließlich völlig entnervt umgezogen.)

Remo war lange Kulissenschieber beim Theater und hat noch mit Heiner Müller gezecht und ihn fotografiert. Weil er dazu neigt, sich zuviel Gewicht aufzuladen, hat er sich bei der Arbeit den Rücken verhoben. Deshalb lebt er jetzt vom Fotografieren auch darin ist er Autodidakt. Vor der Wende durfte er einmal mit dem DT zu einem Gastspiel in den Westen reisen und ist abgehauen, seine Frau wußte Bescheid, sie hatte ihm für ein Jahr freigegeben, danach sollte er versuchen, irgendwie wieder ins Land zu kommen. Er ist gerade durch Frankreich und Spanien vagabundiert, als die Mauer fiel. Weil er trotzdem nicht zurückkam (es war ja ein Jahr ausgemacht, und das war noch nicht vorbei) war seine Frau sauer und trennte sich.

Mit der Tochter einer seiner früheren Frauen hat er jetzt wieder zwei Kinder. Mit ihr war er auch in Indien, wo er fast gestorben wäre, Bauchspeicheldrüse, Leber, falsche Diagnose, fast hätten sie ihn vergiftet, er mußte aus dem Krankenhaus fliehen und wog zu Hause nur noch die Hälfte. Manchmal packt es ihn, und er fährt spontan mit einem Damenfahrrad ohne Gangschaltung nach Litauen. Obwohl er kein Polnisch kann, wird er unterwegs überall eingeladen. Einmal mußte er so viel Wodka trinken, daß er die Nacht quer auf der Fernstraße liegend verbrachte und nur durch großes Glück nicht überfahren wurde. Er würde für solch eine Reise nie ein besseres Fahrrad nehmen, es gefällt ihm ja gerade, sich abzukämpfen. Für mich ist er der typische Mann aus dem Osten, wie sie nicht mehr nachwachsen.

Vielleicht hätte sie einen wie ihn gewollt? Oder gerade nicht, und sie hat jetzt einen aus dem Westen? Mit Auto, Dachgeschoßwohnung und Lieblingswein? Und ich konnte ihr nur ein Stück Quietschpappe zu Weihnachten schenken! Aber es hat doch geklungen wie früher.

Seite 85-105 Nicht nur für die Soldaten ist der Urlaub eine eigenartige Erfahrung, auch den Daheimgebliebenen beschert die Begegnung mit ihnen seltsame Empfindungen: "Als Saint-Loup in mein Zimmer getreten war, hatte ich mich ihm mit einem Gefühl der Befangenheit und unter dem Eindruck von etwas Übernatürlichem genähert, das einem im Grunde alle Urlauber einflößen und das man sonst verspürt, wenn man zu einer von tödlicher Krankheit befallenen Person mitgenommen wird, die noch immer aufsteht, sich ankleidet und spazierengeht." Seine Narbe auf der Stirn erscheint Marcel "erhabener und geheimnisvoller [..] als die vom Fuß eines Riesen auf der Erde zurückgelassene Spur."

Es gab inzwischen einen Angriff von Zeppelinen auf Paris (wie rasant hat sich die Kriegstechnik seither entwickelt...), und Saint-Loup "fragte mich, ganz als rede er von irgendeinem ästhetisch höchst bedeutsamen Schauspiel, ob ich auch alles gut gesehen habe." 30 Jahre später betrachtet Ernst Jünger das brennende Paris durch ein Champagnerglas. Aber er hat diese Pose nicht erfunden, Saint-Loup diskutiert auch schon, ob Flugzeuge beim Start oder bei der Landung besser aussehen. Vielleicht ja bei der Landung, durch den apokalyptischen Effekt von sich aus ihrer Bahn lösenden Sternen. Schon die Sirenen seien ja wie Wagner. "Man muß sich wirklich fragen, ob es sich um ein Aufsteigen von Fliegern oder nicht vielmehr von Walküren handelt." Da hatte Coppola eine gute Intuition, genau das ins Bild zu setzen.

Monsieur de Charlus wird immer mehr zur tragischen Gestalt. Aufgrund seines "Leidens" oder "Lasters" hat sich eine maximale Distanz zwischen den beiden Seiten seiner Persönlichkeit, dem ererbten Teil und dem "persönlichen Makel", ergeben. Den Verdurins erscheint er als "Vorkriegstyp", was als schlimme Charakterisierung gemeint ist. "Er sieht keinen Menschen, niemand empfängt ihn mehr." Reicht das denn schon, um "schrullig", oder "erledigt" zu sein? Eigentlich müßten sich doch die Menschen, die niemanden mehr sehen, untereinander recht gerne sehen. Charlus hat seine adlige Mischpoke immer verachtet, er ist ja eigentlich ein Künstler ohne Werk, aber Kunstmenschen, wie Bergotte, an denen er interessiert war, hatte an ihm gerade diese Verwandtschaft am meisten gefesselt: "...die Möglichkeit auch, die er besaß, jenem das quasi provinzielle Leben zu schildern, das seine Kusinen von der Rue de la Chaise bis zu der Place du Palis-Bourbon und der Rue Garancère hin führten." Damit hat er dasselbe Problem, wie ein Kollege, der nicht mehr Bauarbeiter sein wollte, aber bei den Intellektuellen, wenn sie ihn denn wahrnehmen, gerade für die Welt interessant ist, die er hinter sich gelassen hat. Dazu kommt, daß Madame Verdurin Charlus als Spion verdächtigt, da in ihm bayrisches Blut fließt. Warum hat er sie damals überhaupt auf La Raspelière besucht? "Sicher war er von den Deutschen beauftragt, dort einen Stützpunkt für ihre U-Boote vorzubereiten." Auch der ehemalige Geliebte Morel verfolgt Charlus mit Haß, obwohl er seine tiefe Güte, Großzügigkeit, sein Zartgefühl und seine fast eines Heiligen würdige ungewöhnliche Feinfühligkeit durchaus begriffen hat. Aber trotzdem schreibt er für die Zeitung parodistische Pamphlete gegen Charlus, die von Madame Verdurin vervielfältigt und weiterverbreitet werden.

Madame Verdurin betrachtet den Krieg im übrigen "als eine Art von gigantischem 'Langweiler'", der ihr ihre Getreuen abspenstig macht. Z.B. Cottard (der ja seit ein paar hundert Seiten wieder lebt), er stirbt offiziell im Krieg, in Wirklichkeit aber an Altersschwäche.

Für Marcel waren die Frauen eine Erfahrung, die ihn gelehrt hat, daß man nicht immer glauben darf, was gesagt wird. Das gilt im menschlichen Bereich, wie in der Politik. "Aber seitdem das Leben mit Albertine und mit Françoise mich daran gewöhnt hatte, bei beiden Gedanken und Pläne zu vermuten, die sie nicht in Worte kleideten, ließ ich mich durch keine auch noch so überzeugend klingenden Reden von Wilhelm II., von Ferdinand von Bulgarien, von Konstantin von Griechenland in meinem Instinkt mehr täuschen, der allmählich erriet, welche Machenschaften sich hinter einer jeden verbargen." Einerseits bereichernd, wenn das schlichte Gemüt eines Mannes durch die Erfahrung der Frauen gezwungen wird, sozial komplexeres Denken zu lernen, andererseits auch wieder traurig, wenn man seine Naivität verliert.

Todesfälle: - Madame de Villeparisis.

  • Cottard (2.mal).
  • Monsieur Verdurin.

Unklares Inventar: - Bressant, Delaunay (Schauspieler).

  • Mangin.
  • Arthur Meyer.
  • Zuaven.
  • Die Schärpe der Marienkinder.
  • Deschanel.

Verlorene Praxis: - Kühne Vorstöße nach der Kunst unternehmen.

  • In die Sitzung der Académie Française laufen, wenn Deschanel spricht.

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "...eine Person, die sich bewußt ist, daß der Wert ihrer Worte nur steigen kann, wenn sie die Stimme [..] nicht anhebt."

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