Schmidt liest Proust
Donnerstag, 28. September 2006

Berlin - III Die Welt der Guermantes - Seite 314-334

Im letzten Winter hatten wir uns auf dem Spielplatz vor dem Schneeregen in einem bunten Häuschen versteckt, dessen Wände Gedanken größerer Kinder schmückten: "Alle von euch Pennernutten sind Nutten!" (Warum muß unser Staat eigentlich für viel Geld allen Bürgern lesen und schreiben beibringen, wo die meisten von ihnen später das eine nur widerwillig und das andere ohne jeden Nutzen für die Allgemeinheit tun?) Um im Häuschen ein Häuschen zu sehen, muß man davon abstrahieren, daß es weder einen Fußboden hat, noch Türen oder Fenster, und daß jeder, der versuchen würde, darin einzuziehen, von der Polizei abgeholt würde. Was es trotz dieser Mängel zu einem Häuschen macht, ist, daß man rausgucken kann. Abstraktion gilt ja eigentlich als Vergnügung höherer Intelligenzen, dabei sind Kinder darin viel virtuoser. Mit Sand und zwei Stöckchen kann man Nudeln-mit-Tomatensauce-und-Hustenbonbons-essen und Zähneputzen spielen, und es wirkt nicht unrealistischer, als in der Kirche mit einer Oblate Jesus essen zu spielen. Wenn mir diese Fähigkeit zur Abstraktion nicht verloren gegangen wäre, könnte ich jederzeit in meiner Wohnung im Central-Park-Penthouse-wohnen spielen, meine Zimmerpflanzen – alles Ableger eines einzigen, hartnäckigen Grasgewächses-, wären meine Haremsdamen und die Bücher an den Wänden wären alle von mir selbst geschrieben, und das, obwohl ich eigentlich Kranführer bin. Und immer, wenn mir jemand auf die Nerven geht, würde ich, wie der eine Junge im Kindergarten, sagen: "Ich spiel jetzt, daß ich nicht da bin". Ein Spiel für eine Person und eine Menschheit. Es ist erst zuende, wenn die Menschheit heult.

Seite 314-334 Wieder eine Ernüchterung: in der Stimme des deutschen Fürsten vernimmt er nicht, wie erwartet "das Raunen der Elfen und den Tanz der Gnomen", sondern den gleichen Akzent wie bei einem elsässischen Portier. Was für eine Enttäuschung müssen wie Deutschen, die wir uns ja auch schon selbst so anöden, erst für den Rest der Welt sein.

Wir erfahren, daß Onkel Adolphes Sohn kürzlich zu Marcel gekommen ist, um ihm einige Erinnerungsstücke zu bringen, die der Onkel vor seinem Tod für diesen zurückgelegt hatte, weil er sie "für ungeeignet hielt, sie meinen Eltern zu schicken, von welchen er aber glaubte, sie würden für einen jungen Mann meines Alters von Interesse sein." Was könnte das sein? Briefmarkenalben? Eine Campingaxt? Ein Gummimotorflugzeug? Nein: "Es waren Photographien von berühmten Schauspielerinnen und großen Kokotten, die mein Onkel gekannt hatte..."

Mit Saint-Loup ist nicht viel anzufangen. Wie vor ihm schon Swann und Marcel, verzehrt er sich völlig in einer Leidenschaft zu einer eher willkürlich herausgepickten Frau. Was hilft es da, zu wissen, daß wir uns immer unter unserem Niveau verlieben? Im Moment ist er in diesem Stadium, in dem der Liebende nicht nur der Angebeteten, sondern auch allen anderen auf die Nerven fällt: "Tatsächlich schien Roberts Blick immer wieder in eine Tiefe abzugleiten, die er dann sofort wieder verließ wie ein Taucher, der auf den Grund gekommen ist. Dieser Grund, dessen Berührung für Robert so schmerzhaft war, daß er sich gleich darauf wieder zurückschnellte, um einen Augenblick später wieder zu ihm hinabzusinken, war die Vorstellung, daß er mit seiner Geliebten gebrochen habe." Aber so ein aus Selbstschutz und Stolz herbeigeführter Bruch könnte ja auch ein großer Fehler sein. Vielleicht tut man ihr Unrecht? Er ist auch schon dabei, die Sache umzudeuten: "Sogar bei Zerwürfnissen zwischen einem guten Mann und einer bösen Frau, und sogar wenn das Recht ganz klar auf seiner Seite ist, kommt es doch immer vor, daß eine ganz unbedeutende Angelegenheit der Bösen den Anschein gibt, in einem Punkte wenigstens doch nicht ganz unrecht zu haben. Da die Frau alle anderen Punkte aber übergeht, wird, wofern der besagte Gerechte sie irgendwie braucht und unter der Trennung leidet, sein geschwächtes Selbstgefühl ihn gegen sich selber einnehmen, er wird sich der aus der Luft gegriffenen Vorwürfe erinnern, die sie gegen ihn vorgebracht hat, und sich fragen, ob diese nicht doch vielleicht begründet waren." Das funktioniert wohl nicht nur in der Liebe so, sondern auch mit jeder anderen Form von Kritik: "Sogar bei Zerwürfnissen zwischen einem guten Autor und einem bösen Kritiker, und sogar wenn das Recht ganz klar auf Seiten des Autors ist, kommt es doch immer vor, daß ein ganz unbedeutender Einwand dem Kritiker den Anschein gibt, in einem Punkte wenigstens doch nicht ganz unrecht zu haben. Da der Kritiker alle anderen Punkte aber übergeht, wird, wofern der besagte Autor ihn irgendwie braucht und unter der berufsmäßig bedingten Isolation aller Autoren leidet, sein geschwächtes Selbstgefühl ihn gegen sich selber einnehmen, er wird sich der aus der Luft gegriffenen Einwände erinnern, die gegen sein Buch vorgebracht wurden, und sich fragen, ob diese nicht doch vielleicht begründet waren."

Katalog kommunikativer Knackpunkte: - "...setzte sie in ironischem Ton hinzu, der ihrer Stimme etwas Gutturales gab, als ob sich dahinter ein rauhes Lachen versteckte."

Unklares Inventar: - ein schimmernder Domino (Kleidungsstück).

  • Spazierfahrt im Phaeton (der Kutsche).

Verlorene Praxis: - Seinem Neffen seine Aktfotosammlung vererben.

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