Schmidt liest Proust
Dienstag, 8. August 2006

Odessa, Uspenskaja 13 - S.411-437

Streng genommen geht es seit 200 Seiten um einen Mann, der eine Frau liebt, die ihn nicht liebt, weshalb er sie eigentlich nur liebt. "Manchmal hoffte er, sie werde, ohne zu leiden, bei einem Unfall umkommen..." das würde die Sache in der Tat abkürzen. Wenn das Ende dieses ersten Buchs nicht durch Zufall mit dem Ende meiner Forschungsreise zusammenfallen würde, ich würde es inzwischen ein wenig herbeisehnen. Plangemäß werde ich Anfang Februar mit dem ganzen Buch durch sein, und die Nostalgie, die ich dann empfinden werde, wenn ich an die Zeit zurückdenke, als ich das Buch begonnen habe, also an jetzt, ist schon abzusehen (Ich schaffe es ja sogar, mit Nostalgie an die Zeit zu denken, die ich gerade erlebe.) Ich werde das Buch also irgendwann noch einmal lesen, um mich an heute zu erinnern und über meine rührenden Anstreichungen schmunzeln. Da ich dann besser als jeder andere über die seelischen Hintergründe der Liebe informiert sein werde, werde ich mich nie mehr verlieben, so wie ich ja auch nie mehr krank geworden bin, seit ich weiß, daß die Ursache von Grippe Grippeviren sind. Der einzige Trick ist, niemals unter Menschen zu gehen, dann kann man der nächsten Liebewelle ganz gelassen entgegensehen und muß auch die Vogelliebe nicht fürchten, selbst wenn sie, wegen der Massentierhaltung, auf den Menschen überspringen sollte. Andererseits überträgt Liebe sich auch übers Telefon, manchmal brütet man sie ja sogar selber aus, indem man sich Gedanken macht. Man darf also auch mit niemandem mehr reden und an niemanden denken.

S.411-437 Vinteuils Melodie wird weiter erörtert, und die Natur der Melodien im allgemeinen. Für Proust sind ышу zwar eigentlich unsterblich und existieren außerhalb von uns, aber wir nehmen sie als Geiseln mit in den Tod, "diese Gefangenen göttlichen Geschlechts, die unser Schicksal teilen." Der Komponist findet nur, was schon da ist. Wenn er etwas eigenes hinzufügen würde, würden wir den Betrug sofort bemerken. Melodien sind Spuren einer Welt anderer Ordnung, durch die wir sehen "welche Fülle der Vielheit uns unbewußt jene große undurchwanderte, entmutigend ziellose Nacht unserer Seele birgt, die wir für Leere halten und für nichts." Wobei das auch mit wenig anspruchsvoller Musik funktioniert, man denke an die Minderjährige, die beim Tokio-Hotel-Konzert das Schild: "Georg, fick mich in die Unendlichkeit!" hochhielt, weil sie einen Führer durch die entmutigend ziellose Nacht ihrer Seele suchte.

Mutmaßungen über Odettes Vergangenheit machen Swann verrückt. Sie soll etwas mit Frauen gehabt haben, wird ihm in einem anonymen Brief mitgeteilt. "Wie viele Menschen war Swann ziemlich trägen Geistes und ohne jede Erfindungsgabe. In Form einer allgemeinen Lebensweisheit war ihm zwar wohl bekannt, daß das menschliche eben reich an Widersprüchen sei, aber bei jedem Einzelwesen stellte er sich dennoch vor, daß der ihm unbekannte Teil von dessen Leben mit dem ihm bekannten völlig identisch sein müsse." Wie die dichterische oder wissenschaftliche Eingebung, funktioniert auch die Eifersucht, aus einer vereinzelten Beobachtung wird einem plötzlich das Gesetz klar. Schreckliche Momente, in denen einem bewußt wird, wie naiv man die ganze Zeit gewesen ist. Während man noch überlegt hat, ob es zu dreist wäre, sie mal zum Eis einzuladen, hat sie schon mit allen anderen Sex gehabt. Wie ein Chirurg fragt Swann nach und wartet ihre Abwehrkrämpfe ab, um das Messer wieder anzusetzen. Schließlich gibt sie zu "zwei- oder dreimal" etwas mit Frauen gehabt zu haben. Daß Worte einem "so das Herz zerreißen konnten, als ob sie es wirklich träfen..." Eine medientheoretische Überlegung zum Wesen der Kommunikation, mitten in einer Zeit, in der der Sprache ihre Wirkung abgesprochen wurde. "Er wollte mehr auf sie achtgeben, wie auf eine Krankheit, die sich als schwerer herausstellt, als man erst angenommen hat." (Noch mehr auf sie achtgeben?) Schließlich gibt sie sogar zu, Forcheville schon vor ihm gekannt zu haben, sie hat sogar schon mit ihm "dejeuniert". Und an dem Abend, als alles begann, als er sie so verzweifelt gesucht hatte, das Pferd scheute und die Orchideen verrutschten, war sie vorher im Café von Forcheville angesprochen worden, er wolle ihr "seine Stiche zeigen" (sozusagen seine Plattensammlung). Was für ein Schlag! Sogar in der Zeit, als sie noch glücklich gewesen waren, hat sie ihn schon hintergangen! Wenn das Glück also reine Einbildung und Blindheit war, warum kann er nicht einfach wieder blind sein, und sich etwas angenehmes einbilden (frage ich mich)?

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